Bilder: Romel Janeski, Entlastungsdienst Schweiz, 2021
Podcast zum Tag für pflegende und betreuende Angehörige 2021
«Das kleine Glück schätzen»
Ein Gespräch mit Bettina Ugolini, Sara Satir und Daniela Lager
Bettina Ugolini, Expertin im Altersbereich und Sara Satir, betreuende Angehörige, tauschen sich mit der Moderatorin Daniela Lager über die Situation der betreuenden Angehörigen aus. Sie sprechen über den Mut, den es oftmals braucht, sich Hilfe zu holen, um nicht selber zu erkranken. «Die Liebe hat mich an meine Grenzen gebracht», sagt Sara Satir. Die Gesprächsteilnehmerinnen sind sich einig: Hilfe annehmen ist eine Stärke und Unterstützung im Betreuungsalltag darf ohne schlechtes Gewissen in Anspruch genommen werden. Gerade auch um den Blick für die schönen Momente, die im Austausch mit der betreuten Person entstehen, nicht zu verlieren.
Unbestritten ist: Pflegen und betreuen kann nur, wer sich selber Sorge trägt.
Ein Projekt der Gesundheitsförderung Kanton Zürich und den kantonalen Non-Profit-Organisationen Entlastungsdienst Schweiz, Pro Senectute, Alzheimer, Schweizerisches Rotes Kreuz, Spitex Verband und Pro Infirmis.
Tagung
Ein gutes Alter für alle ermöglichen
Die Tagung «Gutes Alter für alle – eine öffentliche Aufgabe?» zeigte vor allem eines: Die Schweiz muss jetzt handeln, um den Menschen ein Alter in Würde zu ermöglichen.
«Lassen Sie uns heute gemeinsam über ein würdiges Altern für alle nachdenken – und versuchen wir, einer Lösung auf die Spur zu kommen.» Mit diesen Worten eröffnet Erika Gerber die Tagung «Gutes Alter für alle – eine öffentliche Aufgabe?» am 29. Oktober 2021 in Bern. Gerber ist Präsidentin des Entlastungsdienstes Schweiz, der gemeinsam mit dem «Netzwerk Gutes Alter» zur Tagung eingeladen hat.
Franziska Teuscher steckt darauf hin das Terrain ab und zitiert aus der aktuellen Studie der Paul Schiller Stiftung. «Über 600'000 älteren Menschen in der Schweiz fehlt es an Betreuung.» Das sei erschreckend, so die Gemeinderätin der Stadt Bern. Als Direktorin für Bildung, Soziales und Sport (BSS) berichtet sie von ersten Erfahrungen des Berner Pilotprojekts mit Betreuungsgutsprachen. Mit diesem Projekt, das seit 2019 im Gang ist, will die Stadt Bern verschiedene Unterstützungsangebote gemäss dem Bedarf der Betroffenen mitfinanzieren. Das Angebot richtet sich an Personen mit bescheidenen finanziellen Mitteln. Im dreijährigen Pilotprojekt soll sich unter anderem zeigen, ob mit dieser Unterstützung Heimeinweisungen hinausgezögert oder verhindert werden. Was sich schon heute zeigt: Ältere Menschen, die am Projekt teilnehmen, berichten von einer Stabilisierung oder Verbesserung ihres psychischen und physischen Wohlbefindens.
«Ich möchte nicht, dass ältere Menschen davon abhängig sind, ob es in ihrer Region geeignete Angebote gibt. Ich wünsche mir, dass die reiche Schweiz allen gute Betreuung bieten kann.»
Franziska Teuscher, Gemeinderätin Bern
Ausgeschöpft werde das Angebot zurzeit leider noch nicht vollständig, sagt Franziska Teuscher und ortet hier auch eine der grössten Herausforderungen solcher Projekte: Wie können die Menschen, die Unterstützung bräuchten, mit passenden Angeboten erreicht werden und wann ist dafür der «richtige» Zeitpunkt? Diese Frage stellt sich bei vielen Angeboten und Modellen und Teuscher verweist hier auf ein Problem, das nicht leicht zu fassen ist: «Wir sollten uns gegen stereotype Bilder in der Gesellschaft wehren. Unterstützung anzunehmen ist kein Zeichen von Schwäche.»
Um Menschen zu begleiten, braucht es vor allem: Zeit
Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW stellt in seinem Referat denn auch klar: Fast alle Menschen sind im Laufe ihres Lebens irgendwann auf Unterstützung angewiesen. Und damit ist nicht primär Pflege gemeint, sondern Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen. Mit steigendem Alter, so Knöpfel, schreite auch der «Fragilisierungsprozess» voran, die Hilfsbedürftigkeit steigt nach und nach. Zu Beginn dieses Prozesses könne noch sehr viel Unterstützung vom sozialen Umfeld, von betreuenden Angehörigen, geleistet werden. Doch im Laufe der Zeit brauche es immer mehr professionelle Unterstützung. Und auch hier spricht Knöpfel noch nicht primär von Pflege. «Viele Menschen im fortgeschrittenen Alter werden irgendwann Pflege brauchen. Die meisten plus/minus eine Stunde pro Tag. Und was passiert in den restlichen 23 Stunden?» Wichtig sei vor allem das psychosoziale Wohlbefinden. Und um dieses zu erhalten, sei Betreuung ein entscheidender Faktor. Und das wiederum heisst: Zeit. Es braucht Zeit, um Menschen zu begleiten, aber diese steht heute nicht zur Verfügung.
«Gute Betreuung heisst, sich Zeit nehmen.»
Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit
Die aktuelle Studie «Kosten und Finanzierung für eine gute Betreuung im Alter in der Schweiz», die die Paul Schiller Stiftung ermöglichte, zeigt: Es bräuchte 6 bis 9 Millionen Stunden zusätzliche Betreuung im stationären Bereich pro Jahr sowie 8 bis 19 Millionen zusätzliche Stunden ambulanter Betreuung jährlich. Dieser Mehrbedarf ist enorm. Die Kosten dafür schätzt die Studie auf 800 bis 1600 Mio. Franken. Dazu sagt Knöpfel: «Das ist natürlich viel Geld. Aber es ist keine absurd hohe Zahl. Das ist immer noch im Bereich des Machbaren.» Gute Betreuung im Alter für alle sei finanzierbar. «Dazu muss aber ein Recht auf Betreuung politisch festgelegt sein.»
Auch einen Lösungsansatz hat die genannte Studie erarbeitet. Knöpfel betont, dass die Lösung nicht in einem Modell liegt, das alle Leistungen klar definiert und beziffert wie im KVG die Pflegeleistungen. Diesen Weg dürfe man nicht einschlagen wollen. Das Thema gehöre überdies nicht in die Gesundheitspolitik, sondern in die Sozialpolitik. Denn: «Alt werden und betreuungsbedürftig sein ist keine Krankheit.»
Kanton Waadt: 13 Millionen Franken für die Sorgearbeit
Ein anderes Beispiel, wie ältere Menschen und ihre Angehörigen unterstützt werden können, liefert der Kanton Waadt. Er kennt das «Amt für sozialen Zusammenhalt», in dem sich gesundheitliche und soziale Aspekte vereinen. Der Leiter der Generaldirektion für sozialen Zusammenhalt des Kantons Waadt Fabrice Ghelfi ist überzeugt: «Es braucht jetzt Massnahmen, um die soziale Entwicklung zu begleiten, die im Gang ist.» Und meint damit die wachsende Zahl älterer Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, während die Familien kleiner und fragmentierter werden. Darum hat der Kanton Waadt 2010 ein Programm ins Leben gerufen, das betreuende Angehörige stärken soll. Das Ziel: Die Rahmenbedingungen schaffen, damit die «funktionalen Fähigkeiten» der Betroffenen so lange wie möglich erhalten bleiben und dadurch die Selbständigkeit gestärkt werden kann. Zum Programm gehören verschiedene Massnahmen, die weit über die konkrete Unterstützung betreuender Angehöriger hinaus geht. Jährlich investiert der Kanton Waadt mehr als 13 Millionen Franken in diese Unterstützung.
«Wenn sich jede und jeder auf das Altern vorbereiten muss, dann muss auch die Gesellschaft sich auf ihre Alterung vorbereiten.»
Fabrice Ghelfi, Leiter Generaldirektion für sozialen Zusammenhalt, Kanton Waadt
Über die finanzielle Beteiligung der Öffentlichkeit an Massnahmen, um die Alterung der Gesellschaft zu meistern und dabei die Würde der Einzelnen zu wahren, weiss die Ökonomin Mascha Madörin zu sprechen. Leider musste sich die Referentin allerdings krankheitshalber kurzfristig abmelden (ihr Referat wird Mascha Madörin in digitaler Form noch zur Verfügung stellen). Die Moderatorinnen der Tagung Kim Böhlen und Bettina Dauwalder übermitteln dem interessierten Publikum dennoch die wichtigsten Inhalte aus Mascha Madörins Referat. Eine Schlüsselaussage: Die öffentliche Finanzierung von Care-Arbeit für Kinder ebenso wie für Kranke fällt in der Schweiz im internationalen Vergleich besonders tief aus. Diese knappen staatlichen Mittel haben gemäss Madörin gravierende Auswirkungen. Die Versorgungsqualität in der Schweiz müsste verbessert werden. Dazu sind Innovation und Veränderung nötig, für die jedoch die Mittel fehlen. Durch die steigenden Gesundheitskosten sind grundlegende Werte wie Menschenwürde und das Recht auf Grundpflege gefährdet. Und: Eine «neue Armut» sei am Entstehen, so Madörin. Die Armut an personenbezogenen Dienstleistungen, die für ein gutes Altern und generell eine gute Versorgung wichtig seien. Die fehlende Anerkennung und Finanzierung von Care-Arbeit geht laut Mascha Madörin insbesondere zulasten der Frauen.
Niederlande mit innovativem Beispiel
Als innovativen und vielversprechenden Ansatz für die Verbesserung der Versorgung stellt die Tagung das Modell «Buurtzorg» aus den Niederlanden vor. Der Gründer von Buurtzorg (etwa: Nachbarschaftshilfe) Jos de Blok erklärt dem Publikum via Videobotschaft seine Idee. Wichtig sei, so der Pflegefachmann de Blok, dass das Umfeld der Menschen mit Unterstützungsbedarf direkt einbezogen werde. Die Mitarbeitenden von Buurtzorg sind Pflegefachpersonen und nehmen sich die Zeit, um die Situation der Patientinnen und Patienten genau zu erfassen – und vor allem zu fragen: Wer kann wie involviert werden? Es gehe darum, das Umfeld der Personen zu aktivieren und die Pflegefachpersonen von Buurtzorg als einen Teil eines gesamten sorgenden Teams zu installieren. Dazu pflegt Buurtzorg eine innovative Organisationsform mit flachen Hierarchien. Und: Es gibt einen einzigen Tarif für alle Leistungen.
Dass eine Spitex-Organisation Betroffenen helfen kann, eine sorgende Gemeinschaft aufzubauen, damit diese über die reine Pflege hinaus gut betreut sind, ist ein Modell, das inzwischen international Beachtung gefunden hat. Christina Brunnschweiler, CEO der Spitex Zürich Limmat, hat dieses Modell so überzeugt, dass sie es in ihrer Spitex in Zürich eingeführt hat. Die vorläufige Bilanz fällt fast durchwegs positiv aus, sagt sie an der Tagung. Es war, betont sie, eine grosse Transformation für alle und dieser Prozess sei auch schmerzhaft gewesen. «Aber heute will bei uns niemand mehr zurück», so Brunnschweiler.
Eine Volksinitiative für einen Umbruch
Dass es sicher nicht zurück, sondern umso mehr vorwärts, innovativ vorwärts gehen soll in Sachen Pflege und Betreuung für alle, darüber waren sich Referierende wie Teilnehmende einig. Zum Abschluss stellten Simone Bertogg und Beat Rinnger vom «Netzwerk Gutes Alter» ihr Projekt für eine Volksinitiative «Gutes Alter für alle» vor.
«Wir sitzen auf einer Zeitbombe. Es muss bald etwas geschehen», sagt Ringger. Viele Bemühungen seien schon da, die guten Beispiele hätten es gezeigt. «Aber viele dieser Initiativen bleiben unterwegs stecken oder sind nur lokal wirksam. Das führt nicht zum grossen Umbau, den es heute bräuchte.» Man müsste «die Ganzheit adressieren». Darum wolle das Netzwerk gutes Alter eine Volksinitiative lancieren. Im Wesentlichen soll es darum gehen,
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angemessene und qualitativ gute Alltagsunterstützung, Betreuung und Pflege der Betroffenen zu sichern,
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eine ganzheitliche, integrierte und koordinierte Versorgung sicherzustellen
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finanzielle Mittel verfügbar zu machen, ohne die Belastung der Versicherten zu erhöhen,
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schweizweit geltende Mindestvorgaben für Betreuungsangebote einzuführen sowie
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den Bund in die Verantwortung einzubinden.
Das Netzwerk Gutes Alter arbeitet aktuell weiter an den Details und ist sehr offen für Vorschläge und Mitarbeit von Interessierten. (Alle Informationen hier: www.gutes-alter.org)
«Betreuende Angehörige gehen oft bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Das liegt auch daran, dass sehr viele von ihnen sich keine oder zu wenig Entlastung leisten können.»
Erika Gerber, Präsidentin Entlastungsdienst Schweiz
Präsentationen (Referate)
Veranstalter und Partner
Der Entlastungsdienst Schweiz und das Netzwerk Gutes Alter veranstalteten die Tagung gemeinsam.
Unterstützt wurde sie von der Age Stiftung, der Paul Schiller Stiftung, von Pro Senectute Kanton Bern, dem VPOD, dem Schweizerischen Roten Kreuz, dem Schweizerischen Verband der Aktivierungsfachfrauen/-männer SVAT, der Gewerkschaft Unia, der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung IGAB, dem ErgotherapeutInnen-Verband Schweiz sowie der Stiftung WaliDad.
Bern
Frühere Aktionen zum Tag für pflegende und betreuende Angehörige