top of page

Fotos: Romel Janeski

Sorge tragen: Betreuung als Wirtschaftsfaktor - Zeit für politische Lösungen

Nationale Tagung vom Donnerstag, 30. Oktober 2025 im Zentrum Paul Klee Bern

Die Betreuung durch Angehörige ist eine tragende Säule unserer Gesellschaft – und doch weitgehend unsichtbar und unbezahlt. Anlässlich des Tags für betreuende Angehörige organisierten der Entlastungsdienst Schweiz und das Büro für Feminismus eine Tagung, um die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung von Angehörigenbetreuung sichtbar zu machen und politische Lösungsansätze zu diskutieren. Die Anwesenden waren sich einig: Angehörigenbetreuung ist eine Aufgabe, die der gesamten Gesellschaft dient. Sie darf nicht länger eine Privatangelegenheit bleiben.

Rückblickvideo zur Tagung

​​Politische Lösungen gefordert

Die Botschaft der betreuenden Angehörigen und der anwesenden Fachpersonen ist eindeutig: Betreuung muss rechtlich, finanziell und institutionell denselben Stellenwert erhalten wie die Pflege. Heute bleiben Entlastungsangebote oft schwer auffindbar, in Notlagen zu wenig rasch verfügbar und für viele finanziell kaum zugänglich. Gleichzeitig fehlt eine breite gesellschaftliche Anerkennung der Sorgearbeit. Genannt wurden auch konkrete Lösungsansätze wie eine schweizweite Triage-Hotline oder die Aufnahme von Care-Arbeit im Lehrplan. Insgesamt zeigt sich: Betreuung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die klare politische Priorität braucht. 

Die wichtigsten Forderungen der Teilnehmenden:

  1. Nationale Koordination: Eine schweizweite Strategie für Betreuung und Entlastung, um kantonale Ungleichheiten zu vermeiden.

  2. Gesicherte Finanzierung: Gleichstellung der Betreuung mit der Pflege und eine verlässliche Finanzierung, die Risiken wie Altersarmut verhindert.

  3. Zeitliche Entlastung sichern: unbürokratischer Zugang zu Entlastung, schnelle Hilfe in Notsituationen, bessere und umfassende Informationen über bestehende Angebote.

  4. Sorgearbeit aufwerten: Gesellschaftliche und politische Anerkennung stärken und Betreuung als öffentliche Aufgabe verstehen.

  5. Alltagsnahe Unterstützung ausbauen: Wirksame Angebote und Modelle wie die Familienhelferin schweizweit etablieren und inklusive Angebote stärken. 

Neue Wege für die Betreuung von Angehörigen

Wer sich mit Sorgearbeit beschäftigt, weiss: es muss sich dringend etwas ändern. Dafür brauchen wir zunächst eine Vorstellung davon, wie es anders sein könnte. Und wir brauchen den Mut, Dinge auszuprobieren und neue Wege zu gehen. 

Dabei sind Utopien keine Träumereien, sondern Werkzeuge zur Veränderung. Sie öffnen den Blick für das, was fehlt und machen sichtbar, was möglich wäre – zum Beispiel, wenn Fürsorge als gemeinsame Aufgabe verstanden würde, als Ausdruck gelebter Solidarität.

 

Eine sorgende Gesellschaft braucht Mut zur Veränderung, Vertrauen ins Kollektiv und politische Lösungen, die Betreuungsarbeit ins Zentrum der Gesellschaft rücken. Marah Rikli und Roberto Mora brachten diese Perspektive mit ihren Beiträgen auf den Punkt.

Marah Rikli: «Was wäre, wenn alles gut würde?»

Marah Rikli erzählt in ihrer #carecity_story* «Was wäre, wenn alles gut würde?» von einer nahen Zukunft, in der Sorgearbeit sichtbar, geteilt und geschätzt wird. Eine Utopie – aber eine, die aus dem Alltag gewachsen ist. Eine Geschichte über gelebte Solidarität, radikale Fürsorge und die Kraft des Miteinanders.

 

Auszug aus der Lesung:

«Wenn Sorgearbeit sichtbar, geteilt und geschätzt würde. Wenn es selbstverständlich wäre, um Hilfe zu bitten – und selbstverständlich, Hilfe anzubieten. Wenn Sorge keine Überforderung wäre, sondern Teil unseres Alltags, getragen von vielen Händen. Wenn Räume zum Ausruhen, zum Zuhören und zum Aushalten so selbstverständlich wären wie Bushaltestellen.

 

Wenn niemand mehr sagen müsste: ‹Ich kann nicht mehr.› Weil niemand mehr allein wäre mit der Verantwortung.

 

Vielleicht würde sich dann etwas verschieben. Nicht alles auf einmal, aber genug, damit Hoffnung wieder möglich wird.»​

Marah Rikli spricht 
in ein Mikrofon
«Fürsorge ist ein politisches Thema, weil es kein privater Akt ist, sondern ein Fundament der Gesellschaft.»
Marah Rikli, queere feministische Mutter, Autorin und Aktivistin

Foto: Nadja Senn

#carecity_stories* ist ein künstlerisches Projekt, das Geschichten einer sorgenden Gesellschaft erzählt – zwischen Fiktion, Erfahrung und feministischer Zukunftsarbeit. Mehr unter: https://carecity.world/

Ein Modell zum Nachahmen: Praxisansatz aus Bellinzona

Im Tessin wurde ein neuer Praxisansatz zur Entlastung von betreuenden Angehörigen ausprobiert. Roberto Mora, Direktor der Associazione Bellinzonese per l’Assistenza e cura a Domicilio (ABAD), erzählte, wie dieses Modell entstand – und warum es das fehlende Puzzleteil in einer gesamtheitlichen Versorgung ist.

 

2018 suchte der Kanton Tessin nach Wegen, um die häusliche Betreuung älterer Menschen zu stärken. Viele Angehörige waren am Limit, professionelle Dienste überlastet. Um diese Lücke zu füllen und Pflegeheimeintritte hinauszuzögern oder gar zu verhindern, entwickelte Roberto Mora gemeinsam mit der Associazione Bellinzonese per l’Assistenza e cura a Domicilio (ABAD) das Modell der Familienhelferin.

 

Die Familienhelferin hat eine (minimale) soziale und gesundheitliche Grundausbildung und sie unterstützt die Menschen zuhause im Alltag. Sie begleitet Personen, die nicht mehr völlig selbstständig sind – beim Essen, Einkaufen, Spazieren, bei Hausarbeiten und sie leistet Gesellschaft. Dabei ersetzt sie niemanden; sie verbindet: Angehörige, Fachpersonen und Freiwillige. Mit ihrer Vernetzung stimmt sie die Leistungen von Angehörigen, Spitex, Hausärzt:innen, Sozialberatung und allfälligen Freiwilligen gezielt aufeinander ab. Das Angebot entlastet Angehörige spürbar, stabilisiert den Alltag und beugt Überlastung vor.

 

Die Dienstleistung kostet etwa 52 Franken pro Stunde, wovon die betroffene Person rund 25 Franken übernimmt; der Rest wird von der öffentlichen Hand gedeckt. Einige Zusatzversicherungen beteiligen sich, und Menschen mit tiefem Einkommen können Ergänzungsleistungen beantragen. So kann ein Lohn für die Familienhelferinnen gewährleistet werden. Und gleichzeitig bleibt ihre Unterstützung erschwinglich. Seit 2023ist die Familienhelferin im kantonalen Versorgungsplan verankert. Ab 2026 soll das Modell auf den gesamten Kanton ausgeweitet werden.

«Die Familienhelferin ist das fehlende Bindeglied zwischen professioneller Pflege, Familie und Gemeinschaft.» Roberto Mora, ABAD Bellinzona ​​​

 

Gemeinsam Sorge tragen – Forschung und Politik im Dialog

Das Beispiel aus Bellinzona zeigt: Entlastung ist möglich, wenn Betreuung als gemeinsame Verantwortung verstanden und strukturell abgesichert wird. Doch noch fehlt vielerorts der politische Wille für die Umsetzung solcher Modelle.

 

Hier setzen die Beiträge von Anja Peter, Heidi Kaspar, Flavia Wasserfallen und Adrian Wüthrich an. Sie zeigen, dass Angehörigenbetreuung nicht nur eine persönliche Herausforderung ist, sondern ein gesellschaftliches und politisches Zukunftsthema – und darüber hinaus eine volkswirtschaftliche Leistung in Milliardenhöhe.

 

Anja Peter: Die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung der Angehörigenbetreuung

Laut Bundesamt für Statistik wurden im Jahr 2024 rund 126 Millionen Stunden unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeit für erwachsene Personen geleistet.[1] Das entspricht rund 70 000 Vollzeitstellen – das sind etwa so viele, wie in der gesamten Spitex und in der stationären Langzeitpflege besetzt sind.[2]

 

Bewertet man diese Arbeit monetär, ergibt sich ein Wert von mindestens 5,8 Milliarden Franken pro Jahr.[3] Damit liegt sie in derselben Grössenordnung wie die gesamten Ausgaben des Bundes für die militärische Landesverteidigung im Jahr 2024.[4]

 

Diese Zahlen zeigen, wie zentral diese Arbeit für unsere soziale Infrastruktur ist. Pflegende Angehörige übernehmen einen erheblichen Teil der Gesundheitsversorgung und -finanzierung. So betrachtet ist Angehörigenbetreuung nicht eine individuelle oder familiäre, sondern eine gesamtgesellschaftliche, wohlfahrtsökonomische und sozialpolitische Frage. Doch die politische Diskussion konzentriert sich bislang vor allem darauf, wie betreuende Angehörige im Erwerbsleben gehalten werden können – nicht darum, was ihre Betreuungsarbeit für die Gesellschaft leistet.

 

Betreuung ist keine Privatsache, sondern öffentliche Verantwortung. Sie verdient politische Anerkennung, verlässliche Strukturen, finanzielle Absicherung – und betreuende Angehörige brauchen ein Recht auf Erholung.

Heidi Kaspar: Caring Communities – Sorge als gesellschaftliche Infrastruktur

Ausgangspunkt ist die feministische Sorgeethik von Joan Tronto (2013)[5], die fünf Phasen des Sorgens unterscheidet: Wahrnehmen, was gebraucht wird – Verantwortung übernehmen – sorgen – Empfangen der Sorge – und gesellschaftliche Verantwortung für die Sorgenden. Sorge ist also kein einseitiger Akt ist, sondern ein wechselseitiger Prozess, der Zeit, Beziehungen und Vertrauen braucht.

 

Caring Communities – Lokale Sorgegemeinschaften, Nachbarschaftsnetzwerke, Freiwilligenprojekte oder Gemeindeinitiativen – können entscheidend dazu beitragen, Betreuung solidarisch zu gestalten. Sie machen sichtbar, dass Fürsorge eine öffentliche Aufgabe ist, die von vielen Schultern getragen werden muss.

Kaspar warnt jedoch davor, Verantwortung einfach nach unten zu delegieren. Wenn Caring Communities nicht politisch und finanziell gestützt werden, droht Re-Privatisierung: Aus der geteilten Sorge wird wieder unbezahlte Frauenarbeit. Eine nachhaltige Sorgepolitik muss deshalb zwei Ebenen verbinden: individuelle Beziehungen und institutionelle Verantwortung.

 

 

 

Flavia Wasserfallen: Was tut der Bund?

Ständerätin Flavia Wasserfallen rückte in ihrem Beitrag die Rolle des Bundes in den Fokus: Was tut die nationale Ebene für betreuende Angehörige – und was bleibt noch zu tun?

Der Bund hat mit dem Betreuungsurlaub und den Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen zwarwichtige Schritte unternommen. Doch eine Gesamtstrategie zur Entlastung von betreuenden Angehörigenfehlt: Zuständigkeiten sind zersplittert, kantonale Unterschiede gross, und viele Entlastungsangebote hängen vom Zufall des Wohnorts ab.

 

Damit ist die Politik noch nicht am Ziel, meint Wasserfallen. Sie fordert eine nationale Koordination, verbindliche Finanzierungsmodelle und eine langfristige Perspektive: Angehörigenbetreuung müsse Teil der Gesundheits- und Sozialpolitik werden – mit klaren Zuständigkeiten und messbaren Zielen.

Adrian Wüthrich: Angehörige anstellen als Weg der fairen Absicherung der Angehörigenbetreuung

Die Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung IGAB bündelt die Stimmen der betreuenden Angehörigen in der Schweiz und vertritt ihre Anliegen in der Politik. Im Gespräch mit Sara Satir betonte Adrian Wüthrich, Präsident der IGAB, dass das Modell der Anstellung pflegender Angehöriger grosse Chancen bietet – für die betreuten Personen und für die Angehörigen selbst. Damit dieses wachsende Versorgungsmodell jedoch fair, sicher und wirksam umgesetzt werden kann, brauche es ein nationales Regelwerk. Wüthrich kritisierte, dass der Bundesrat zwar die Notwendigkeit einer einheitlichen Definition anerkennt, darüber hinaus jedoch keinen Handlungsbedarf sieht. Dadurch drohten kantonale Ungleichheiten, fehlende Qualitätsstandards und mangelnde Transparenz bei der Finanzierung – mit spürbaren Nachteilen für Familien. Deshalb fordert die IGAB eine nationale Strategie, die Schutzstandards, Finanzierung und Transparenz verbindlich regelt. 

Sein Appell: Politik, Kantone, Gemeinden und Sozialpartner sollen gemeinsam handeln, Betroffenenorganisationen früh einbeziehen und die Mitsprache der Angehörigen sichern.

 

Fazit

Die Tagung hat gezeigt, dass eine entlastende Sorgepolitik möglich ist und erste tragfähige Modelle bereits existieren. Gleichzeitig wurde deutlich, wie wichtig klare politische Prioritäten, verlässliche Strukturen und eine angemessene Finanzierung sind, damit Betreuung als öffentliche Verantwortung wahrgenommen und abgesichert wird. Der Entlastungsdienst Schweiz und das Büro für Feminismus setzen sich darum weiter dafür ein, die Anliegen von betreuenden Angehörigen sichtbar und wirksam in die Politik und Gesellschaft einzubringen.

[1] Nur Betreuung und Pflege von Erwachsenen. Bundesamt für Statistik (BFS): Zeitvolumen für unbezahlte Arbeit, Jahr 2024: Link.

[2] Gemäss Erhebungen des Bundesamts für Statistik arbeiteten im Jahr 2022 in der Spitex und in der stationären Langzeitpflege zusammen rund 70 000 vollzeitäquivalentes Pflege- und Betreuungspersonal. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium: Bestand und Dichte des Pflege- und Betreuungspersonals: Link(abgerufen am 22.10.2025).

[3] Der monetäre Wert ist eine eigene Schätzung auf Basis der sogenannten Marktkostenmethode mit Zahlen aus dem Jahr 2020. Vgl. Bundesamt für Statistik (BFS): Monetäre Bewertung der unbezahlten Arbeit, 2020: Link (abgerufen am 22.10.2025). Die aktualisierten monetären Berechnungen des BFS werden Anfang 2027 erwartet.

[4] Bundesamt für Statistik (BFS), Staatsrechnung des Bundes – Ausgaben nach Aufgabengebieten 2007–2024, Rubrik Militärische Landesverteidigung, publiziert durch die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV): Link (abgerufen am 22.10.2025).

[5] Tronto, Joan. 2013. Caring Democracy. Markets, Equity, and Justice. New York, London: New York University Press.

Literatur

Präsentationen & Downloads

Downloads

Veranstalter

Entlastungsd_Logo_RGB_DE.png
Logo_TdA_2024.png

Die Tagung wurde unterstützt von:​

Logo_IGAB_rgb_pos.jpg

Die Tagung wurde gefördert durch:

Logo_FGE_MK_cmyk_300dpi_DE.jpg
BGB_Logo_Screen_S.png

Fragen?

Haben Sie Fragen oder Anregungen zur Tagung? Kontaktieren Sie uns gerne via tagung@entlastungsdienst.ch.

Entlastungsd_Logo_RGB_DE.png
Logo_TdA_2024.png
bottom of page